Energiekosten und Versorgungssicherheit waren in den vergangenen zwei Jahren für viele Branchen ungeahnte Herausforderungen, auch für die Recyclingwirtschaft. Wir haben mit Silvio Löderbusch, Geschäftsführer Technik der REMONDIS Production, über Erfahrungen mit dem Energiemanagement, Herausforderungen bei der Energieversorgung und Zukunftsperspektiven bei der Nachhaltigkeit des Industrieparks „Lippewerk“ gesprochen, des größten Standorts für industrielles Recycling in Europa.
Die vergangenen zwei Jahre waren sicher mit Blick auf die Entwicklung der Preise von Strom und Gas extrem herausfordernd. Was hat Ihnen als Verantwortlichen für einen Industriegroßstandort dabei am meisten Sorgen gemacht?
Silvio Löderbusch: Die Preise waren zunächst nachrangig, vielmehr ging es um die generelle Verfügbarkeit von Erdgas und Strom. Einige Lieferverträge wurden zeitweise nicht mehr bedient. Ohne ausreichend Energie hätte es immenser Anstrengungen bedurft, den Betrieb und die Werkssicherheit aufrecht zu erhalten und die Versorgung der Infrastruktur und der angesiedelten Unternehmen sicherzustellen. Wir können jederzeit einen Teil von möglichen Ausfällen kompensieren, nicht aber hundert Prozent.
Hier hat sich ausgezahlt, dass wir seit Jahren daran arbeiten, eine gewisse Energie-Autarkie zu erreichen, bei der die Abfallverbrennung an unserem Standort eine besondere Bedeutung hat. Außerdem mussten wir natürlich innerhalb der jeweiligen Einheiten klären, ob wir den Zusagen unseren Kunden gegenüber weiter nachkommen können und zu welchen Bedingungen.
Mussten Sie in einzelnen Bereichen die Produktion drosseln?
Silvio Löderbusch: Ja, aber das geschah in Rücksprache mit unseren Kunden, die zum Beispiel plötzlich entstehende Zusatzaufwendungen nicht zahlen konnten und wollten. Insgesamt fiel der Rückgang aber geringer aus, als wir es zunächst befürchtet haben.
Welche Rolle spielt für den Standort die Strom- und Wärmeerzeugung aus eigenen Quellen? Wie unabhängig sind Sie?
Silvio Löderbusch: Wir haben die Möglichkeit, unseren Standort so lange mit Energie versorgen, wie wir Abfälle zur Verbrennung erhalten. Das ermöglicht zum Beispiel ein kontrolliertes Herunterfahren der Anlagen. In anderen Unternehmen mussten die Energiemengen rationiert werden. Auch darauf konnten wir verzichten. Wer Anlagen betreiben wollte oder musste, hatte die Möglichkeit dazu.
Nun handelt es sich auf Ihrem Gelände um mehrere eigenständige Unternehmen unter dem RETHMANN-Dach, von denen die einen Energie brauchen, die anderen Energie herstellen. Wie organisieren Sie da die Zusammenarbeit? Oder macht jeder sein eigenes Ding?
Silvio Löderbusch: Das ist alles eingespielt. Wir sind in der glücklichen Lage, den Standort in der Woche über Tag mit 60 bis 70 Prozent des Energiebedarfs an Strom zu versorgen und in der Nacht und am Wochenende zu 100 Prozent. Bei Gas sieht das anders aus. Hier sind wir vom vorgelagerten Netz abhängig. Dennoch war auch hier sehr schnell klar, dass wir als gesamter Recyclingstandort zur kritischen Infrastruktur gezählt werden und damit eine Versorgung, zumindest für Notbetriebe, immer sichergestellt war.
„Wir sind nach DIN ISO 50001 zertifiziert und leben das Energiemanagement daher bereits seit Jahren.“
Silvio Löderbusch, Geschäftsführer Technik der REMONDIS Production
Experten und Politik haben Deutschlands Industrie dazu aufgefordert, kurzfristig Energie zu sparen. Haben Sie im Lippewerk entsprechende Projekte auf den Weg gebracht? Wie erfolgreich war das?
Silvio Löderbusch: Das ist bei uns Tagesgeschäft. Wir sind nach DIN ISO 50001 zertifiziert und leben das Energiemanagement daher bereits seit Jahren. Unmittelbar hätte die Energiereduzierung natürlich Einschränkungen der Prozesse erfordert, aber wir sind da schon recht sensibilisiert. Um ein Zeichen zu setzen und um Energieverbräuche der Infrastruktur zu minimieren, haben wir, wo es möglich war, dann zum Beispiel die Raumtemperaturen abgesenkt, Mitarbeiter von zu Hause aus arbeiten lassen, um einige Beispiele zu nennen.
Wir haben das Jahr 2023 erreicht, die Großhandelspreise für Energie fallen seit Monaten und man fühlt etwas Entspannung. Wie sehen Sie für die nächsten zwölf Monate die Energiesituation des Standorts?
Silvio Löderbusch: Wir betrachten nicht die vor uns liegenden zwölf Monate. Wir erleben revolutionäre Verschiebungen in den Energiemärkten und haben zudem die Thematik der Dekarbonisierung auf der Agenda. Da helfen keine kurzfristigen Betrachtungszeiträume, denn alle Entscheidungen, die wir heute treffen, müssen auf das Ziel Klimaneutralität 2045 einzahlen. Anders wird daraus kein Schuh. Eine Mammutaufgabe, die uns als Team aktuell einiges abverlangt.
Lassen Sie uns über die weitere Zukunft sprechen: Niemand glaubt im Moment, dass wir in den kommenden Jahren wieder niedrige Energiepreise sehen werden. Und die von Ihnen erwähnten Nachhaltigkeitsziele müssen auch erfüllt werden. Was sind Ihre Prioritäten auf dem Weg?
Silvio Löderbusch: Erstens das Schaffen einer Datenbasis, an die wir anknüpfen und Ziele klar formulieren können. Es ist einfach gesagt `Senke Deinen CO2-Footprint auf das Niveau von 1990´. Wer weiß denn von sich, wo dieser damals lag, wenn es keine Daten dazu gibt. Zweitens werden wir Prozesse und Wertschöpfungsketten komplett anders denken müssen. Macht es Sinn, den eigenproduzierten Strom für unsere Prozesse zu nutzen oder ist es sinnvoller, den Strom der Verbrennungsanlage zu nutzen, um zum Beispiel Speicher zu befüllen oder Wasserstoff zu produzieren? Daraus werden wir dann unsere Strategie formulieren, mittels derer wir das Ziel erreichen.
Wie tief müssen Sie gehen, um das 55-Prozent-Ziel bis 2030 zu erreichen? Reicht konsequente Reduzierung des Verbrauchs und Effizienzgewinne? Oder müssen Produktionsprozesse neu gedacht werden?
Silvio Löderbusch: Wie gesagt, wir werden nicht nur die Produktionsprozesse neu denken, denn das Ziel werden wir nur erreichen, wenn wir die gesamte Wertschöpfungskette neu denken. Darin steckt auch eine große Chance, denn es kann uns enger mit unseren Kunden zusammenbringen und uns weniger austauschbar machen.
Aktuell gewinnen Sie Energie aus Biogas und Abfallverbrennung und betreiben zwei Gas-Blockkraftheizwerke. Wird sich am Energiemix etwas ändern, etwa mit Blick auf Photovoltaik?
Silvio Löderbusch: In jedem Fall wird sich der Energiemix ändern und daher ist es wichtig, sich seitens der Politik nicht immer direkt festzulegen. Wir brauchen die Freiheit, alle Möglichkeiten in unsere Betrachtungen einzubeziehen. Gerne können wir bei bestimmten Techniken Übergangsperioden definieren, aber grundsätzlich müssen bei dieser einmaligen Aufgabe alle Optionen zur Bewältigung denkbar sein. Wenn wir hier gefesselt an den Start gehen, ist das nicht gut für unsere Chancen, das sehr ambitionierte Ziel zu erreichen.
Das Lippewerk – Europas größter Recycling-Standort
Das REMONDIS Lippewerk in Lünen gilt mit seiner Fläche von 230 Hektar und vor allem mit seinem breiten Spektrum an Aufbereitungsinnovationen als Europas größtes Zentrum für industrielles Recycling. Am Standort werden aktuell 33 Unternehmen von REMONDIS Production mit Energie versorgt, davon 23 aus der REMONDIS-Gruppe. Insgesamt sind allein im Bereich der Produktion Flächen von mehr als 162.000 Quadratmeter vorhanden, verteilt auf 78 Gebäude. Inklusive der REMONDIS-Zentrale arbeiten dort mehr als 1.400 Beschäftigte.
Die Energieinfrastruktur umfasst quasi alle denkbaren Prozesse: Vor Ort werden Strom, Druckluft und Wärme erzeugt, Strom, Wärme, Druckluft und Gas verbraucht, ein eigenes Stromnetz betrieben und Elektrizität in das öffentliche Netz eingespeist. Vier Kraftwerke erzeugen Strom: ein Biomassekraftwerk, eine Wirbelschichtverbrennung und zwei Blockkraftheizwerke. Die Kennzahlen sind imposant: Insgesamt erzeugten diese Kraftwerke im Jahr 2022 mehr als 200 GWh an Strom, der überwiegend ins öffentliche Netz eingespeist wurde. Der Eigenbedarf für den Betrieb liegt bei rund 80 GWh. Hinzu kommen über 100 GWh Erdgas, annähernd 70 Mio. Kubikmeter Druckluft und mehr als 140.000 Tonnen Dampf. Weitere Informationen: https://www.remondis-lippewerk.de/werkuebersicht/