Seit Jahren werden technische Lösungen entwickelt und eingesetzt, um die Rundumsicht aus Lastkraftwagen zu verbessern. Der Einsatz von Abbiegeassistenten kann viele Gefahrensituationen entschärfen. Sich allein auf technische Hilfsmittel zu verlassen, ist jedoch riskant. Wichtig ist, dass sich alle Verkehrsteilnehmerinnen und -teilnehmer aufmerksam und rücksichtsvoll auf der Straße bewegen, um das Unfallrisiko zu minimieren. Sensibilisierung spielt in der Aus- und Weiterbildung von Berufskraftfahrerinnen und -fahrern eine große Rolle. Der Haken: Viele Gefahrensituationen lassen sich im Vorfeld nicht trainieren – weder auf dem Übungsplatz noch im realen Straßenverkehr. Wie digitale Schulungen und ein Fahrsimulator diese Sicherheitslücke schließen können? Vollgas für mehr Fahrsicherheit!
Wie jeden Morgen fährt Lisa mit dem Rad zur Arbeit. Der Weg ist nicht besonders lang, bietet aber genug Zeit, die heutigen Aufgaben gedanklich durchzugehen. Ein entspannter Start in den Tag also, wäre da nicht diese eine brenzlige Stelle: eine große Kreuzung mit mehreren Abbiegespuren. Soeben springt die Ampel auf Grün und Lisa tritt in die Pedale. Doch von hinten hört sie einen Lkw, der ebenfalls auf die Ampel zurollt. Gleich holt er sie ein. Lisa entscheidet zu bremsen. Und hat Glück. Nur wenige Sekunden später biegt der Wagen rechts ab und stoppt erst in letzter Sekunde. Das hätte auch schiefgehen können!
Schon in der Führerscheinvorbereitung begegnet einem die Frage: „Warum müssen Sie vor dem Rechtsabbiegen warten?“ Ganz einfach: wegen des Fußgängers oder Radfahrers, der sich im toten Winkel befinden kann. Das ist der kleine, aber so wichtige Bereich seitlich des Fahrzeugs, der für den Fahrer trotz Spiegel oder Kamera schlecht einsehbar ist. Das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur zählte im Jahr 2019 rund 9.906 Unfälle mit Personenschaden beim Rechtsabbiegen. Häufige Ursache: der tote Winkel. Besonders für Lkw-Fahrer, die aus ihrem Führerhaus heraus trotz erhöhter Sitzposition nicht alles überblicken können, ist der tote Winkel ein ständiges Risiko.
Technische Lösungen müssen her, um die Gefahren beim Rechtsabbiegen zu entschärfen: So gilt nach der EU-Verordnung (EU) 2019/2144 für Busse und Lkw, dass ab dem 6. Juli 2022 alle neuen EU-Typgenehmigungen und ab dem 7. Juli 2024 alle neu zugelassenen Fahrzeuge mit Abbiegeassistenten auszurüsten sind. Technisch bedeutet das dann: Befindet sich beim Abbiegen eine Person in jenem Bereich seitlich des Fahrzeugs, der für den Fahrer nicht einsehbar ist, ertönt ein lautes akustisches Signal. Der Fahrer kann bremsen und so einen Zusammenstoß verhindern. Nach Berechnung der Unfallforschung der Versicherer (UDV) können 60 Prozent der Abbiegeunfälle durch den Einsatz von Abbiegeassistenten vermieden werden. Das klingt doch erst einmal positiv.
Nach der EU-Verordnung (EU) 2019/2144 für Busse und Lkw sind ab dem 6. Juli 2022 alle neuen EU-Typgenehmigungen und ab dem 7. Juli 2024 alle neu zugelassenen Fahrzeuge mit Abbiegeassistenten auszurüsten.
Routine ist der Feind vieler Fahrer
Aber auch wenn sich die technische Ausstattung im Laufe der Jahre zunehmend verbessert, sind es doch Menschen, die da hinter dem Steuer sitzen. Menschen, die Tag für Tag ihren Lkw von A nach B lenken. Und das im besten Falle sicher. Hier allein auf technische Hilfsmittel und ihre Funktionstüchtigkeit zu vertrauen, ist zu kurz gefasst. Was noch hinzukommt: Der tote Winkel beim Rechtsabbiegen ist nur eins von vielen Risiken. Häufige Gründe für Lkw-Unfälle sind erhöhte Geschwindigkeiten, zu geringe Abstände und vor allem eins: Ablenkung. Jeder Berufskraftfahrer lernt in der Ausbildung das nötige Handwerkszeug: Wie fährt man einen Lkw und was sind die täglichen Aufgaben? Im Laufe der Jahre stellen sich dann Routinen ein: Nur mal eben zum Handy greifen und einen Song weiterschalten. Nur mal eben den knurrenden Magen besänftigen und ins Butterbrot beißen. „Nur mal eben“ kann schnell zum Verhängnis werden. Denn scheinbar routinierte Handgriffe während des Fahrens stören den Blick für das Wesentliche – den Blick auf die Straße, auf andere Verkehrsteilnehmer.
60 % der Abbiegeunfälle können durch den Einsatz von Abbiegeassistenten vermieden werden
„Routine ist der Feind vieler Fahrer und kann zu hohen Unfallquoten führen“, weiß auch Paul Fikus, der innerhalb der REMONDIS-Gruppe die Aus- und Weiterbildung von Berufskraftfahrern und Kfz-Mechatronikern in der Region West verantwortet. „Denn niemand provoziert freiwillig einen Unfall“, gibt er zu bedenken. Vielmehr stellt sich im Laufe der Jahre Leichtfertigkeit ein: Ich weiß doch eh, wie mein Fahrzeug funktioniert. Mit Sicherheit. Aber wer einmal gelernt hat, einen Lkw zu fahren, muss langfristig daran erinnert werden, welche Verantwortung es bedeutet, ein so großes Fahrzeug zu bewegen. Fahrersensibilisierung gehört also zwingend zur Aus- und Weiterbildung eines jeden Berufskraftfahrers. Ohnehin unterliegen gewerblich tätige Berufskraftfahrer weitaus strengeren Auflagen als Privatfahrer. Sie sind zwar nicht allein verantwortlich für die Sicherheit im Straßenverkehr. Jedoch müssen sie alle fünf Jahre Modulschulungen absolvieren, um ihre Fahrerlaubnis zu behalten – was allein schon aufgrund der Fahrzeuggröße, des transportierten Guts und des Einsatzgebiets sinnvoll ist.
Paul Fikus und seine Ausbilderkollegen am Standort in Herne beschäftigen sich schon länger damit, wie sie ihr Schulungsangebot optimieren können. Gerade weil sich viele Situationen im Vorfeld nicht trainieren lassen, ist es wichtig, die Fahrer zu sensibilisieren, ihre individuellen Erfahrungen miteinzubeziehen und ihre Fähigkeiten gezielt weiterzuentwickeln. „Wir wollen unter die Arme greifen und unsere Fahrer nachhaltig schulen. So ist unser Verständnis von Mitarbeiterwertschätzung“, sagt Alexander Bartz, ebenfalls Fahrtrainer und Ausbilder in Herne. Paul Fikus ergänzt: „Wir sind ein Familienunternehmen und wollen das auch so leben. Das geht nur, indem wir unsere Fahrer fördern und intern zahlreiche Weiterbildungsmöglichkeiten schaffen.“
Künftig soll es für die Berufskraftfahrer einfacher möglich sein, individuell und auf Abruf Weiterbildungen zu besuchen. Sie sollen auch selbst Themen vorschlagen können, die für ihren Berufsalltag relevant sind und in künftigen Weiterbildungen aufgegriffen werden. „So sind wir nah am Geschehen und können das schulen, was ganz speziell unseren Fahrern weiterhilft“, so Alexander Bartz. „Dialog und Austausch stehen dabei an erster Stelle.“
Gewerblich tätige Berufskraftfahrer müssen sie alle fünf Jahre Modulschulungen absolvieren, um ihre Fahrerlaubnis zu behalten.
RECADEMY Drive geht live
Ein erster Schritt in diese Richtung ist bereits getan: Ab sofort können die Fahrer in digitalen Schulungen, sogenannten E-Learnings, ihr Wissen erweitern. Die E-Learnings werden schrittweise erstellt und auf der unternehmensinternen Plattform RECADEMY veröffentlicht. Die einzelnen Schulungen sind interaktiv aufgebaut, beleuchten reale Fahrsituationen und beziehen die Teilnehmer durch Fragen und Bilder aktiv mit ein. Anschaulich wird so Wissen vermittelt, aufgefrischt und gefestigt. Gerade in Zeiten wie der Corona-Pandemie haben sich Online-Schulungen als gute Ergänzung zu Veranstaltungen in Präsenz erwiesen.
Die erste digitale Schulung zum Thema Fahrersensibilisierung ist im Februar 2022 live gegangen. Darin geht es um die Gefahren bei zu geringem Abstand, erhöhter Geschwindigkeit oder Ablenkung hinter dem Steuer. Paul Fikus und Alexander Bartz setzen im ersten E-Learning mit realen Geschichten vor allem auf Emotionalität: „Keine Familie sollte durch den Blick aufs Handy zerstört werden.“ Was übrig bleibt, ist die Erkenntnis: Wer aufmerksam und rücksichtsvoll fährt, fährt sicherer.
Doch das ist nur der Anfang, weitere E-Learnings sind bereits in Planung. In der zweiten Schulung werden die Grundlagen des digitalen Tachographen vorgestellt. Ein wichtiges Thema, schließlich kann das Einhalten von Lenk- und Ruhezeiten Bußgelder verhindern und Unfälle durch erhöhte Geschwindigkeiten oder Übermüdung vermeiden.
Vorstellbar ist auch, den Fahrern künftig Schritt für Schritt den Aufbau des Fahrzeugs, insbesondere bei Einführung neuer Fahrzeuggenerationen, zu erklären: Wie unterscheidet es sich von vorherigen Generationen? Wie ist das Cockpit aufgebaut? Wie lade ich mein Transportgut darin sicher? Wirtschaftliche Fahrweise, Notfallhilfe im Straßenverkehr oder Brandschutz – die Liste möglicher Schulungsthemen ließe sich beliebig fortsetzen. Und letztlich können mit E-Learnings auch neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter schrittweise eingearbeitet und sensibilisiert werden.
Fahrerakquise ist ohnehin ein großes Thema in der Branche. „Generell beobachten wir in Deutschland in allen Logistikbereichen derzeit einen gravierenden Fahrermangel“, schildert Paul Fikus die Situation. „Hinzu kommt, dass uns in den nächsten Jahren zahlreiche Fahrer aufgrund des demographischen Wandels verlassen werden. Das sind Stellen, die wir erst einmal nachbesetzen und dann auch entsprechend weiterbilden müssen.“ Hier kommen die digitalen Schulungen ins Spiel, weil sie jederzeit abrufbar, prägnant und unterhaltsam Wissen vermitteln.
Ab sofort können die Fahrer in digitalen Schulungen, sogenannten E-Learnings, ihr Wissen erweitern.
Personalisierte Wissensvermittlung
Die RECADEMY Drive ist die zentrale Anlaufstelle für die Aus- und Weiterbildung der Berufskraftfahrer und Kfz-Mechatroniker in der Region West. Rund 14 Ausbildungsstandorte und ca. 800 bis 900 Fahrer fallen in den Verantwortungsbereich der Region West. Alles, was hier entwickelt wird, lässt sich künftig auch auf andere Standorte der REMONDIS-Gruppe ausweiten.
Neben den regulären Modulschulungen, die in der Regel in Präsenz stattfinden, sind die Fahrtrainer auch immer auf der Suche nach neuen Möglichkeiten zur Wissensvermittlung. So entstand die Idee, digitale Lernangebote für Berufskraftfahrer zu schaffen. Eine personalisierte Wissensweitergabe, die sich flexibel an den persönlichen Bedarf anpasst.
Das Highlight im Fuhrpark
Doch nicht nur mit den E-Learnings wollen die Fahrtrainer die Einarbeitung neuer Mitarbeiter und Auszubildender oder die Weiterbildung des bestehenden Personals vereinfachen. In Herne ist kürzlich ein Lkw-Fahrsimulator eingezogen. Das neue Gefährt im Fuhrpark lehrt praxisnah eine wirtschaftliche Fahrweise und den souveränen Umgang mit Gefahrensituationen.
Einmal auf dem Fahrersitz Platz genommen, taucht man auf den drei Bildschirmen realitätsgetreu in den Straßenverkehr ein. Hier können Übungs- und Ausbildungsfahrten absolviert, jederzeit wiederholt und miteinander verglichen werden. So lässt sich die eigene Fahrweise analysieren und Schwächen können gezielt verbessert werden. Auch das Rangieren von Aufliegern und Anhängern jeglicher Art lässt sich mit dem Simulator üben. „Alles, was wir so bereits dem Fahrernachwuchs vermitteln können, müssen wir später nicht mehr lehren. Das spart Zeit und erhöht die Sicherheit“, erklärt Paul Fikus.
Aktuell steht der Fahrsimulator in Herne, wird dort auf Herz und Nieren geprüft und auf seinen Einsatz vorbereitet. Künftig soll er dann auch in anderen Niederlassungen eingesetzt werden können. Dazu wird er in einen Dienstwagen eingebaut und mobil gemacht.
Der LKW-Fahrsimulator lehrt praxisnah eine wirtschaftliche Fahrweise und den souveränen Umgang mit Gefahrensituationen.
Aufmerksamer unterwegs
Peter ist seit mehr als 20 Jahren als Berufskraftfahrer unterwegs und kennt seinen Lkw in- und auswendig. Heute ist es besonders hektisch. Auf seinem Weg kommt er an einer brenzligen Stelle vorbei: eine große Kreuzung mit mehreren Abbiegespuren. Als die Ampel auf Grün springt, gibt Peter Gas und setzt den Blinker. Plötzlich ertönt ein Signalton und er tritt abrupt auf die Bremse. Rechts neben ihm taucht eine Fahrradfahrerin auf, mit der er beinahe zusammengestoßen wäre. Glück gehabt!
Letzte Woche noch wurde Peter in einer digitalen Schulung daran erinnert, wie wichtig es ist, aufmerksam zu fahren und auf andere Verkehrsteilnehmer zu achten. Wie wahr! Ein Glück, dass der Abbiegeassistent reagiert hat. Aber was ist beim nächsten Mal? Was, wenn die Technik einmal nicht funktioniert? Peter ist froh, dass sein Arbeitgeber das Thema Fahrersensibilisierung so intensiv verfolgt und mit E-Learnings oder einem Fahrsimulator die Möglichkeit schafft, brenzlige Situationen immer wieder zu trainieren. Künftig wird er noch viel öfter sein Wissen auffrischen und sich bewusst machen, welche Gefahren an jeder Straßenecke lauern können.
Raus aus dem toten Winkel
Dass Sensibilisierung keine Frage des Alters ist, zeigt sich hier: Gemeinsam mit der Polizei und der DEKRA besucht REMONDIS regelmäßig Grundschulen und veranschaulicht den Schülerinnen und Schülern, welche Dimensionen ein LKW hat und warum der tote Winkel so gefährlich ist. Dafür dürfen die Mädchen und Jungen nacheinander auf dem Fahrersitz eines Absetzkippers Platz nehmen. Die Überraschung ist jedes Mal riesig, wenn die gesamte Schulklasse im toten Winkel des Fahrzeugs verschwindet.
Für viele Grundschüler geht es täglich mit dem Fahrrad oder zu Fuß zur Schule. Mit dem Projekt soll daher frühzeitig ein Bewusstsein für die Gefahren im Straßenverkehr geschaffen werden, damit mehr Unfälle mit schwachen Verkehrsteilnehmern – wie Fahrradfahrern oder Fußgängern – verhindert werden können.
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