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6. März 2023

Studie belegt Klimaschutzeffekte durch Kreislaufwirtschaft

Eine zu Jahresbeginn veröffentlichte Studie ­untersucht, in welchem Maße die Abfallwirtschaft zur angestrebten Klimaneutralität Europas beitragen kann

Mit erstaunlichen Ergebnissen: Über den richtigen Umgang mit Abfällen kann bis 2035 ein jährliches CO2-Minderungspotenzial im dreistelligen Megatonnen-Bereich gehoben werden. Dr. Bärbel Birnstengel und Richard Simpson, Autoren der Studie, berichten im Interview über die wichtigsten Fakten und erläutern, was zu tun ist, um die aussichtsreichen Optionen bestmöglich auszuschöpfen.

Dr. Bärbel Birnstengel ist als Prinzipal bei der Prognos AG in der Geschäftseinheit Wirtschaft, Innovation, Region tätig. Schwerpunkte ihrer fachlichen Tätigkeit liegen in europäischen abfall- und sekundärrohstoffrelevanten Markt- und Wettbewerbsanalysen, strategischen Beratungen sowie Commercial Due Diligence. Sie ist zertifizierte Auditorin für Qualitätsmanagementsysteme nach DIN EN ISO 9001:2015.

Richard Simpson ist Fachspezialist bei der Prognos AG in Düsseldorf. Er studierte unter anderem Wirtschaftswissenschaften an der Universität von São Paulo, wo er die Vorteile von Klimaschutzmaßnahmen in Brasilien untersuchte. Bei Prognos liegt sein Schwerpunkt auf Modellierungen und statistischen Datenanalysen, einschließlich relevanter Indikatoren für Green Economy und Kreislaufwirtschaft.

RE:VIEWS: Frau Dr. Birnstengel und Herr Simpson, bevor wir in die Zukunft schauen, zunächst ein Blick auf den aktuellen Status. Was leistet die europäische Abfallwirtschaft heute in puncto CO2-Einsparung?

Prognos: Durch den Wiedereinsatz von Recyclingrohstoffen in der Industrie sowie die energetische Verwertung von nicht mehr hochwertig stofflich verwertbaren Abfällen werden Primärrohstoffe substituiert und Primärenergieträger ersetzt, was somit Treibhausgase vermeidet. In unserer Betrachtung, die etwa 19 Prozent der gesamten Abfallmenge berücksichtigt, und zwar Stoffe mit einem besonders hohen Einsparpotenzial, trägt die Kreislaufwirtschaft bereits zu -122 Megatonnen CO2eq-Entlastung bei. Dieser Beitrag wird allerdings nicht vollumfänglich sichtbar, da die vermiedenen Treibhausgasemissionen den einzelnen Industriesektoren zugeschrieben werden. In der Studie haben wir eine 20-Jahres-Perspektive gewählt. Bezogen auf diesen Zeithorizont beläuft sich die Nettobelastung der Abfallwirtschaft auf 13 Megatonnen CO2eq. Für die ausgewählten Abfallströme arbeitet die Branche somit nahezu klima­neutral. Diese Zahlen machen das hohe Potenzial der Abfallwirtschaft als Teil einer Kreislaufwirtschaft sichtbar.

RE:VIEWS: Hinsichtlich des künftigen CO2-Reduk­tionspotenzials wurden in der Studie zwei Perspektiven entwickelt – eine verhaltene und eine ambitionierte Variante. Wenn wir mit dem ambitionierten Szenario beginnen: Was ist im Optimum erreichbar und welche Voraussetzungen haben Sie dafür zugrunde gelegt?

Prognos: Ausgehend von der aktuellen 13-Megatonnen-CO2eq-Belastung werden bis 2035 im ambitionierten Szenario –283 Megatonnen CO2eq erreicht bzw. 296 Megatonnen CO2eq gegenüber 2018 eingespart. Zur Berechnung haben wir in unserer Modellierung die Abfallmengen auf dem Niveau von 2018 konstant gehalten, die derzeit für Siedlungsabfälle geltende Recyclingquote der aktuellen EU-Abfallrahmenrichtlinie auch auf Abfälle aus Industrie und Gewerbe übertragen und diese Recyclingquote noch weiter erhöht. Darüber hinaus wurde ein Ausstieg aus der Deponierung angenommen, wohl wissend, dass die Deponierung weiterhin einen Beitrag zur Abfallbehandlung leisten muss, weil es immer Abfälle geben wird, die deponiert werden müssen. Diese haben wir auf ein Minimum reduziert. Im Falle der von uns betrachteten Abfallarten wurden alle thermisch verwertbaren Reste der thermischen Verwertung zugeordnet.

Zur Studie

Die im Januar 2022 erschienene Studie „CO2 reduction potential in European waste management“ untersucht den möglichen Beitrag der Abfallwirtschaft zur im Green Deal festgelegten europäischen Klimaneutralität. In einem 20-Jahres-Horizont haben die Forscher dazu zwei Szenarien entwickelt, die auf das Referenzjahr 2018 aufsetzen. Einbezogen sind die 27 Mitgliedsländer der Europäischen Union und Großbritannien. Erstellt wurde die Studie von den Forschungsgesellschaften Prognos und CE Delft für die vier europäischen Abfallwirtschaftsverbände European Waste Management Association (FEAD), Confederation of European Waste-to-Energy Plants (CEWEP), RDF Industry Group sowie Dutch Waste Management Association (DWMA).

Auf der Prognos-Website www.prognos.com steht die Studie unter dem Menüpunkt „Studien & Projekte“ zum Download bereit. (PDF, englisch)

RE:VIEWS: Ein Minderungspotenzial von 296 Megatonnen CO2eq – das entspricht rein rechnerisch der addierten jährlichen CO2-Gesamtmenge der beiden Länder Belgien und Niederlande. 1 Hat Sie dieses Ergebnis überrascht?

Prognos: Nicht in allen Punkten. Die enorme CO2-Entlastung durch das Abfallrecycling und die Substitution von Primärrohstoffen, etwa bei Eisenmetallen und Aluminium, ist bekannt. Überrascht hat jedoch die tatsächliche Höhe der CO2-Belastung durch die Deponierung von organischen Abfällen, etwa Papier oder Bioabfall. Durch das kurzlebige, jedoch mit sehr hohem Wirkungsgrad versehene Gas Methan fällt sie gerade in der 20-Jahres-Perspektive besonders ins Gewicht.

RE:VIEWS: Das etwas weniger ehrgeizige Szenario geht davon aus, dass lediglich die heute bestehenden Vorgaben und Ziele der Europäischen Union umgesetzt werden. Also eine Recyclingquote von 65 Prozent bei einer Obergrenze für deponierte Siedlungsabfälle von zehn Prozent. Was lässt sich unter diesen Voraussetzungen erreichen?

Prognos: Die bestehenden EU-Vorgaben sind nur ein Teil des Szenarios. Wir haben die Recyclingziele auch auf die Abfälle aus Industrie und Gewerbe übertragen, gehen also dort schon etwas weiter. In diesem Szenario ließe sich dadurch eine bedeutende Reduzierung um 150 Megatonnen CO2eq auf eine Nettoentlastung von 137 Megatonnen CO2eq erreichen, vorrangig bedingt durch die geringen Mengen an deponierten Papier- und Bioabfällen. Zudem wäre aufgrund der höheren Recyclingquote und vermehrter energetischer Verwertung eine kleinere Menge an Restabfällen zu erwarten, die zu einer höheren CO2-Entlastung beiträgt.

Mit einer Basis-CO2-Netto­emissionsbelastung von 13-Megatonnen-CO2eq ist die Abfall­wirtschaft schon jetzt nahezu klimaneutral.

RE:VIEWS: Gibt es einen Faktor, der in der Gesamtschau als größter Erfolgstreiber gelten kann?

Prognos: Ja, das ist eindeutig die weitestmögliche Abkehr von der Deponierung und hierbei insbesondere der Deponierung von organischen Abfällen. Die maximale Reduzierung von organischen Abfällen, die deponiert werden, hat das höchste CO2-Reduktionspotenzial.

RE:VIEWS: In welchem Maße wirkt sich die durch ­Recycling erzielte Substitution von Primärrohstoffen aus?

Prognos: Das Recycling und die damit einhergehende Substitution von Primärrohstoffen tragen wesentlich zur CO2-Entlastung bei. Für Eisenmetalle und Aluminium wurde dies zusammen auf rund 180 Megatonnen CO2eq-Entlas-tung geschätzt. Damit sind Eisenmetall und Aluminium die Spitzenreiter in der Nettoemissionseinsparung durch Recycling. In diesem Bereich liegen allerdings schon heute große Erfolge vor. Die Recyclingquoten sind bereits sehr hoch und haben somit ein geringeres Potenzial für künftige zusätzliche Einsparungen.

Im Ausgangsjahr 2018 ohne noch unbekannte ­Behandlungswege, mit GWP-Werten (Global Warming Potential) für Zeithorizonte von 20 Jahren, Quelle: Prognos & CE Delft, CO2 reduction potential in ­European waste management, Januar 2022

* mit Überschneidungen zu den Stoffströmen

RE:VIEWS: In der Studie betrachten Sie neun Stoffströme. Neben Eisenmetall und Aluminium sind Papier, Glas, Kunststoff, Holz, Textilien, Altreifen und Bioabfall einbezogen. Welche dieser Stoffe bieten auf Sicht besondere Potenziale?

Prognos: Die größten zusätzlichen Potenziale liegen bei den organischen Abfällen: Papier, Bioabfall und Restabfälle beziehungsweise Ersatzbrennstoffe. Bei Papier und Bioabfall durch die Kombination von höherem Recycling beziehungsweise Kompostierung und Vergärung und der geringeren Deponierung. Im Rahmen der Studie konnten jedoch nicht alle Abfallarten berücksichtigt werden. Potenziale bestehen aber selbstverständlich unter anderem auch für den massenmäßig größten Stoffstrom, die mineralischen Bauabfälle. Nicht zuletzt zeigt die Praxis, dass es auch gelingt, gefährliche Abfälle wieder in den Kreislauf zurückzuführen, zum Beispiel Lösemittel oder Altöl.

RE:VIEWS: Innerhalb des Kreislaufs ist die Abfallwirtschaft eine Station von mehreren. Was ist im Zusammenspiel notwendig, um das bestmögliche Reduktionspotenzial zu erschließen?

Prognos: Um dieses Potenzial realisieren zu können, sind deutlich höhere Anstrengungen notwendig, und das von allen Akteuren entlang der Wertschöpfungskette. Es bedarf eines koordinierten Vorgehens und eines Umstiegs in ein zirkuläres Wirtschaftsmodell, beginnend mit nachhaltigem Produktdesign sowie einer abfallarmen bzw. abfallfreien Produktion von langlebigen und reparaturfähigen Gütern. Dass sich hohe Einsparungspotenziale nicht allein durch Aktivitäten im Bereich der Kreislaufwirtschaft realisieren lassen, ist uns als Autoren bewusst. Die Verantwortung nur der Abfallwirtschaft zuzuschreiben, greift zu kurz.

96 Mt CO2eq werden bereits heute durch nachhaltigen Umgang mit Papier, Glas, Kunststoff, Eisen­metallen, ­Aluminium, Holz, Textilien, Altreifen und Bioabfall vermieden.

RE:VIEWS: Wie einflussreich sind die Vernetzungen mit vorgelagerten Wirtschaftsbereichen, beispielsweise im Hinblick auf eine recyclingoptimierte Produktgestaltung?

Prognos: Das ist ein wichtiger Aspekt. Produktdesign und Produktion schaffen die Voraussetzungen zur Recyclingfähigkeit der Produkte am Ende des Lebenszyklus. Herausforderungen zeigen sich insbesondere bei den Verbundwerkstoffen in Verpackungen. Um das Recycling zu erleichtern, sollte beim Design möglichst nur eine Stofffraktion verwendet werden anstatt eines Gemisches. Auch die Farbgebung spielt eine nicht unwesentliche Rolle. Deutliche Impulse können über die Digitalisierung entlang der Wertschöpfungskette entstehen, nämlich dann, wenn es gelingt, Datenerfassung und -bereitstellung branchenübergreifend zu realisieren. Digitale Zwillinge – also digitale Abbilder von Produkten – können wertvolle Informationen zur Materialzusammensetzung eines Produkts liefern, was die Rückgewinnung wertvoller Rohstoffe umfassender, effizienter und hochwertiger macht.

RE:VIEWS: Zwischen Produktion und Abfallwirtschaft stehen die Konsumenten. Welche Bedeutung kommt ihnen zu?

Prognos: Ihnen kommt eine sehr wesentliche Rolle zu. Eine große Rolle spielen Konsumenten, die Produkte aus Recyclingrohstoffen akzeptieren und sie am Ende auch wieder in die Kreislaufwirtschaft zurückführen. Nur durch die korrekte Trennung und die anschließende Leistung der Sortieranlagen schafft die Kreislaufwirtschaft die Basis für hochwertiges Recycling der Materialien beziehungsweise für energetische Verwertung der nicht stofflich verwertbaren Reste. Im Prinzip trägt jeder Bürger durch sein Abfalltrennverhalten dazu bei, die CO2-Vermeidungspotenziale zu heben, denn nur qualitativ hochwertige Recyclingrohstoffe lassen sich wieder in den Kreislauf zurückführen. Werden die Stoffe durch Fehlwürfe verschmutzt, nehmen wir uns ein Stück der Möglichkeiten. Einen wichtigen Beitrag leistet ebenso der Maschinen- und Anlagenbau. Moderne Sortier- und Recyclingtechnologien sind in der Lage, mehr aus dem Abfallstrom herauszuholen, dadurch sinkt auch der Anteil der Sortier- und Aufbereitungsreste.

Durch Umsetzung der aktuellen Abfallgesetzgebung sowie Ausweitung der Siedlungsabfallziele auf Gewerbe- und Industrieabfälle lässt sich bis 2035 ein Jahresminderungspotenzial von 150 Mt CO2eq erschließen.

RE:VIEWS: Die Abfallwirtschaft braucht aber auch Support durch entsprechende Gesetzgebung. Sollten Vorgaben nachgeschärft oder breiter aufgestellt werden?

Prognos: Sicherlich sind Regeln und Vorgaben notwendig, doch wir sehen auch, dass es oft am konsequenten Vollzug scheitert. Allein durch Ge- und Verbote werden wir zwar noch viel, aber bei weitem nicht das Mögliche herausholen können. Das wird nur gelingen, wenn wir alle Akteure vom Nutzen überzeugen können und einen wirklichen Wertewandel vollziehen. Dies ist kein leichter, aber ein machbarer Weg.

RE:VIEWS: Die derzeitigen Recyclingverfahren werden kontinuierlich fortentwickelt, zum Beispiel in Bezug auf chemisches Kunststoffrecycling. Können sich die berechneten Einsparpotenziale hierdurch noch erhöhen?

Prognos: Ja, die Kreislaufwirtschaft wird weiterhin ein innovatives Umfeld benötigen, um effizienter und sortenreiner zu sammeln, zu sortieren und Abfälle recyceln zu können. Das chemische Kunststoffrecycling stellt in diesem Kontext eine von vielen vielversprechenden, innovativen Technologien dar.

2019, mit GWP-Werten (Global Warming Potential) für Zeithorizonte von 100 Jahren, Quelle: Bundesumweltamt, September 2021

RE:VIEWS: Intention der Studie ist es, beim Erreichen der europäischen Klimaneutralität zu unterstützen und Entscheidungsträgern hilfreiche Fakten zu liefern. Wie lauten Ihre Empfehlungen für den Weg in die Zukunft?

Prognos: Die Antwort auf diese Frage ergibt sich aus der Zusammenfassung des zuvor Dargestellten: Um die ehrgeizigeren Prognosen zu erreichen, müssen die Ziele für Siedlungsabfälle auf industrielle Abfallströme und Gewerbeabfälle erweitert werden. Die für Recycling und Energierückgewinnung bzw. thermische Behandlung geeigneten Abfälle sollten von Deponien zu diesen Behandlungen umgeleitet werden. Zudem ist es für eine größtmögliche Gesamtreduktion und erhöhte stoffliche Wiederverwendung notwendig, dass alle an der Wertschöpfungskette Beteiligten stärker zusammenarbeiten. Sowohl das Ziel als auch die Maßnahmen im engeren Bereich der Abfallwirtschaft müssen in das wirtschaftliche Gesamtsystem eingebunden sein und durch Ziele und Maßnahmen in den vorgelagerten Wirtschaftsketten flankiert werden.

RE:VIEWS: Ein einprägsames Fazit. Vielen Dank, Frau Dr. Birnstengel und Herr Simpson, für das Gespräch.

Über forcierte Kreislaufführung und stärkere Nutzung derzeit noch deponierter Materialien für stoffliche oder energetische Verwertung kann in Europa bis 2035 eine Jahresemissionsreduktion von 296 Mt CO2eq erzielt werden.

Bildnachweise: Bild 1, 4: Adobe Stock: bartsadowski; Bild 2, 3: Annette Koroll

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