Doch die Voraussetzungen hierfür sind in Deutschland nach wie vor nicht gegeben.
Wenn Mike die Planierwalze das letzte Mal über die neue Straße fährt, ist der Asphalt noch heiß. Es riecht stark nach Bitumen, jenem klebrigen Kohlenwasserstoff-Gemisch, das aus Erdöl gewonnen wird und die kleinen Gesteinskörnungen im Teer zu einem gleichmäßigen Teppich formt, über den tonnenschwere Lkw in den kommenden Jahren ihre Waren transportieren, Menschen zur Arbeit fahren oder Motorradfreunde den ersten Sonnenschein des Frühlings begrüßen werden.
Mike ist Straßenbauer bei einem beliebigen Unternehmen irgendwo in Deutschland, und er verbaut wie so viele in seiner Branche ausschließlich Primärbaustoffe.
Unzählige Male ist Mike schon über dieselbe Stelle gefahren. Jede Schicht muss plattgewalzt werden, damit die Straße den enormen Belastungen standhält, die der Verkehr und die Witterung zukünftig verursachen werden. Denn was Autofahrer von einer Straße sehen, ist nur die oberste Schicht, die sogenannte Deckschicht.
Eine Straße ist ein echtes Hightech-Bauwerk, das aus mehreren Schichten besteht – je nach Anforderungen der Straße sind es mal mehr, mal weniger. Die Deckschicht ist der Asphalt, die Binderschichten darunter gleichen Unebenheiten aus und die Tragschichten müssen einiges aushalten: Denn die tonnenschwere Last des Straßenverkehrs wird an sie weitergegeben. Deswegen muss Mike alles gut verdichten mit seiner Walze, sonst kommt es schnell zu Straßenschäden. Das zöge lästige Baustellen nach sich. Die unterste Schicht der Straße ist meist die Frostschutzschicht. Sie muss dafür sorgen, dass Wasser schnell abfließt, sonst kann es bei Frost zu Schäden kommen.
Viele öffentliche Auftraggeber wollen nach wie vor Primärbaustoffe. Doch die werden auch in Deutschland zunehmend knapp. Für die Tragschichten kommen verschiedene Baustoffe in Frage. Mikes Arbeitgeber verwendet ausschließlich Sand und Kies, wie die meisten in der Branche. Viele öffentliche Auftraggeber wollen das so – implizit oder explizit –, auch wenn es gute Alternativen gibt und das Kreislaufwirtschaftsgesetz inzwischen etwas anderes fordert.
Aufbau einer Straße
Quelle: https://www.asphalt.de/fileadmin/user_upload/technik/asphaltschichten_und_ihr_aufgaben.pdf
Papier ist geduldig, und Unternehmen wie Mikes Arbeitgeber brauchen Aufträge. Doch Primärrohstoffe wie Sand und Kies sind endlich. Auch in Deutschland werden sie zunehmend knapp.
Am Vorkommen liegt es nicht. „Aufgrund seiner Entstehung gibt es in Deutschland eine fast unendlich große Menge an Sand“, stellte bereits vor einigen Jahren Harald Elsner von der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) in einer Kurzstudie zur Versorgung mit Baurohstoffen fest. Aber Deutschland ist zu verbaut, zu verplant und zu dicht besiedelt, um diese Schätze überall heben zu können.
In Baden-Württemberg beispielsweise sind nach Angaben der BGR 85 Prozent der Landesfläche für andere Nutzungen vorgesehen. Wasser-, Natur- und Landschaftsschutzgebiete oder überbaute Flächen verhindern den Abbau von Sand und Kies.
Eine ressourcenschonende Alternative wäre Rostasche aus der thermischen Abfallverwertung, in Fachkreisen auch MVA-Schlacke genannt. Doch Ersatzbaustoffe wie MVA-Schlacke sind in Deutschland seit langem schwer zu vermarkten.
Über sechs Millionen Tonnen vom Feuer gereinigte Mineralik
Nicht alle Abfälle können recycelt werden. Den Restabfall aus den privaten Haushalten beispielsweise verwerten die knapp 70 Müllverbrennungsanlagen in Deutschland und gewinnen damit in erster Linie Wärme und Strom.
Rund 13 Millionen Tonnen sogenannte gemischte Siedlungsabfälle – das ist im Wesentlichen der kommunale Haus- und Sperrmüll – haben die Anlagen im Jahr 2019 verbrannt. Hinzu kommen Gewerbeabfälle, deren Menge nicht genau zu beziffern ist, sich aber in etwa auf demselben Niveau wie die Siedlungsabfälle bewegt.
Auch viele Bauunternehmen müssen Abfälle entsorgen, die nicht recycelt werden können und deshalb verbrannt werden müssen, mit Chemikalien behandeltes Bauholz etwa. Die Schadstoffe werden im über 800 Grad heißen Feuer sicher zerstört und können anschließend weder Mensch noch Umwelt etwas anhaben. Viele dieser Abfallgemische enthalten mineralische Fraktionen, die in den Anlagen im wahrsten Sinne des Wortes durch den Rost fallen.
Etwa 25 bis 30 Gewichtsprozent des Abfalls einer gewöhnlichen Müllverbrennungsanlage gehören zu einer solchen mineralischen Fraktion – und ihre Entsorgung nennen manche einen Skandal in einem Land, in dem Kreislaufwirtschaft und Ressourcenschutz politisch ganz oben auf der Agenda stehen: 2019 sind nach den aktuellen Zahlen des Statistischen Bundesamtes (Destatis) über sechs Millionen Tonnen davon in Deutschland angefallen. Jede fünfte Tonne wurde direkt auf Deponien entsorgt, alles zusammen rund 1,3 Millionen Tonnen. In Wahrheit ist es viel mehr, doch zunächst haben sich sogenannte Schlackeaufbereitungsanlagen um den überwiegenden Teil gekümmert – immerhin knapp 4,7 Millionen Tonnen.
Schlackeaufbereiter interessieren sich meist nur für die Metalle
Die meisten Aufbereiter schielen primär auf die in der Schlacke vorhandenen Eisen- und Nichteisenmetalle (NE-Metalle). Denn die Metalle lassen sich an die Industrie weitervermarkten und bringen dem Aufbereiter gutes Geld.
Der Metallgehalt der Schlacke liegt bei rund zehn Prozent hat die Wissenschaftlerin Kerstin Kuchta von der Technischen Universität Hamburg in einer Studie herausgefunden. Rund 80 Prozent davon ist Eisen und kann vergleichsweise einfach mit einem Magnetabscheider vom Rest der Schlacke getrennt werden. Bei den hochpreisigen NE-Metallen ist das deutlich schwieriger.
Doch wo ein Wille ist, ist meist auch ein Weg: Durch moderne Verfahren gewinnen die Schlackeaufbereiter inzwischen selbst kleinste Partikel Kupfer, Aluminium und sogar Gold, Silber, Platin und Palladium aus der Rostasche zurück.
Allerdings: 90 Prozent der Schlacke ist mineralisch – und hier wird deutlich weniger Aufwand betrieben. Die mineralische Fraktion wird gewaschen, fraktioniert und mehrere Monate gelagert. Während der Lagerung – der sogenannten Alterung – stabilisiert sich durch verschiedene chemische Prozesse das Volumen, und die in der Schlacke vorhandenen Schwermetalle werden stärker gebunden. Dadurch waschen sie sich später schlechter aus und stellen damit nur noch ein überschaubares Umweltrisiko dar.
Nach der Aufbereitung hat die Schlacke vergleichbare bautechnische Eigenschaften wie Sand und Kies, die Straßenbauer wie Mike für die Tragschicht der Straße verwenden. Mike könnte also problemlos Ersatzbaustoffe verwenden, Ressourcen schonen, Kosten sparen.
Der Deponiebau nimmt für sich in Anspruch, Teil der Kreislaufwirtschaft zu sein
Doch das tun Unternehmen wie Mikes Arbeitgeber wie gesagt viel zu selten. Stattdessen landet der überwiegende Teil der Schlacke im sogenannten Deponiebau. Das sind Baumaßnahmen auf Deponien, die das Umweltbundesamt als niederwertige Verwertungsmaßnahmen einstuft.
Offiziell wird die Schlacke also verwertet, einen wirklichen Beitrag zur Kreislaufwirtschaft leistet die derzeitige Praxis indes nicht.
Das liegt vielleicht auch an der Baustoffindustrie in Deutschland: Rund 3.900 Steinbrüche, Ton-, Kies- und Sandgruben sowie 30 Bergwerke versorgen den deutschen Straßen- und Wegebau mit Primärbaustoffen, erfuhr 2018 die damalige Bundestagsabgeordnete und heutige parlamentarische Staatssekretärin im Bundesumweltministerium, Bettina Hoffmann von den Grünen, in einer Kleinen Anfrage von der Bundesregierung. Bei 294 Landkreisen und 107 kreisfreien Städten in Deutschland kommen durchschnittlich auf jede Gebietskörperschaft rund zehn Gruben oder Steinbrüche – Gewerbesteuerzahler, denen wohl niemand in der Kreisverwaltung freiwillig den Hahn zudreht.
Die Baustoffförderung im Bauboom-Land Deutschland ist gewaltig: Auf etwa eine halbe Milliarde Tonnen Gesteinskörnungen schätzt der Bundesverband Miro den Abbau in Deutschland pro Jahr. Laut dem Bundesverband Baustoffe – Steine und Erden (BBS) lag der Einsatz von mineralischem Schüttgut außerhalb der Betonherstellung in den Jahren 2010 bis 2016 bei etwa 2,3 Milliarden Tonnen – durchschnittlich etwa 330 Millionen Tonnen pro Jahr.
Statt im öffentlichen Straßenbau landet die Schlacke direkt oder indirekt auf der Deponie und verschärft damit die ohnehin angespannte Lage bei den Deponiekapazitäten zusätzlich. Spätestens 2033 – so das Beratungsunternehmen Prognos in einer Studie aus dem Jahr 2020 – werden alle Deponiekapazitäten in Deutschland verfüllt sein. Eine Situation, von der wiederum die Grubenbetreiber profitieren werden: Nicht selten erhalten Kies- und Tongruben als Bauschuttdeponien ein zweites Leben, nachdem die Rohstoffe ausgebeutet worden sind.
in 1.000 t, Quelle: Destatis
Die Niederlande zeigen, dass es auch anders geht
Die Ressourcenverschwendung in Deutschland hat dieselben strukturellen Ursachen, wie wir sie aus rohstoffreichen Entwicklungsländern kennen, die ihre Bodenschätze ungebremst ausbeuten. Dass es auch anders geht, zeigen die Niederlande seit vielen Jahren.
Unsere Nachbarn sind nicht so üppig mit Primärbaustoffen ausgestattet. Sie sind auf Importe angewiesen. Fast 20 Millionen Tonnen haben allein deutsche Betreiber von Kiesgruben und Steinbrüchen zwischen 2010 und 2017 in die Niederlande exportiert.
Doch Rohstoffimporte machen abhängig. Wer unabhängig sein will, braucht innovative Recyclinglösungen. Die niederländische Regierung hat das bereits vor vielen Jahren erkannt und vor etwa zehn Jahren mit der Entsorgungswirtschaft einen sogenannten Green Deal ausgehandelt. Vereinfacht ausgedrückt, lässt der sich in der Formel „Erleichterte Nutzung gegen bessere Aufbereitung“ zusammenfassen.
Ziel war eine freie Anwendung von Rostaschen aus der thermischen Abfallverwertung als Baustoff ohne weitere „isolatie-, beheers- en controlemaatregelen“ (IBC), also Dämm-, Management- und Kontrollmaßnahmen. So investierten die niederländischen Entsorger in die Aufbereitung der Schlacke, beispielsweise um den Schwermetallgehalt weiter zu senken.
Die Aufbereitung der Rostaschen hat sich in den Niederlanden seit dem Green Deal so verbessert, dass aufbereitete MVA-Schlacke seit Anfang 2022 ohne Einschränkung als normaler Baustoff im Straßenbau gilt. In IBC-Maßnahmen darf MVA-Schlacke seitdem nicht mehr verwendet werden, Deponierung und Export sind ohnehin verboten.
Fortschritt bei der Schlackeaufbereitung in den Niederlanden; Ziele 2020 (100 %)
Quelle: Jan Peter Born, HVC 2017
Die Aufbereitung der Rostaschen hat sich in den Niederlanden seit dem Green Deal so verbessert, dass aufbereitete MVA-Schlacke seit Anfang 2022 ohne Einschränkungen als normaler Baustoff im Straßenbau gilt.
Die Mantelverordnung: eine umstrittene Lösung für Deutschland
In Deutschland soll die sogenannte Mantelverordnung den Einsatz von Ersatzbaustoffen im Tiefbau verbessern. Als der frühere Staatssekretär im Bundesumweltministerium, Florian Pronold, im vergangenen Sommer bei der Abstimmung über die Mantelverordnung im Bundesrat sprach, verglich er das Regelwerk mit Michael Endes „Unendlicher Geschichte“. 16 Jahre lang hatten Bund, Länder, Bauwirtschaft, Entsorger, Behörden und alle, die in Deutschland irgendwie mit Baustoffen zu tun haben, über die Verordnung gestritten. Das Regelwerk ist nun entsprechend kompliziert und enthält viele Kompromisse, die aus Sicht der Kreislaufwirtschaft vielfach unzureichend sind. Vermutlich ist die Lösung allerdings besser als gar nichts. So definiert die in der Mantelverordnung geregelte Ersatzbaustoffverordnung drei verschiedene Typen von MVA-Schlacke, technokratisch als HMVA-1, HMVA-2 und HMVA-3 bezeichnet. Für jeden dieser Typen sieht die Mantelverordnung unterschiedliche Materialwerte vor und erlaubt bestimmte Einsatzzwecke.
Doch selbst die beste Schlackequalität HMVA-1 mit den strengsten Materialwerten gilt weiterhin als Abfall – ein psychologischer Malus, den Primärbaustoffe nicht haben, auch wenn deren Schadstoff- und Schwermetallgehalt objektiv mitunter höher ist als der in der Schlacke. Unter diesen Umständen ist es eher unwahrscheinlich, dass Straßenbauer Mike in Zukunft mehr Schlacke aus der thermischen Abfallverwertung in die Tragschichten deutscher Straßen einbaut.
Die Zukunft: Hightech-Aufbereitung für den Hochbau
Während in Deutschland der Straßenbau als höchstes Verwertungsziel für MVA-Schlacke gilt, gehen die Niederlande bereits einen Schritt weiter. Die REMONDIS-Tochter Heros betreibt in Sluiskil am Kanal von Gent nach Terneuzen zwischen den bedeutenden Häfen in Rotterdam und Antwerpen eine der größten Anlagen für die Aufbereitung von Aschen aus der Müllverbrennung in Europa. Auf 45 Hektar bereitet Heros jährlich bis zu 700.000 Tonnen Schlacke aus den Niederlanden und Belgien auf. Das entspricht der Hausmüllmenge von rund sechs Millionen Bürgern.
Die Spezialisten von Heros haben mit der hydromechanischen Reinigung ein Verfahren entwickelt, um besonders hochwertige Ersatzbaustoffe der Korngröße null bis 14 Millimeter zu produzieren. In einem zweistufigen Prozess wird die Mineralik so lange gewaschen und gesiebt, bis ein praktisch schadstoff- und schwermetallfreies, gewaschenes Granulat übrig bleibt.
Das Heros-Granulat kann nicht nur für Tragschichten, sondern auch für die Asphaltproduktion und zur Betonherstellung eingesetzt werden – und damit auch im Hochbau. Bei der Reinigung der Mineralik fallen übrigens zudem Kupfer, Zink, Blei, Edelstahl, Gold und Silber an, die die metallverarbeitenden Betriebe gerne abnehmen.
So verschwimmen in den Niederlanden zunehmend die Grenzen zwischen Primär- und Ersatzbaustoffen. Der Mangel an eigenen Rohstoffen hat das Land erfinderisch gemacht. Deutschland könnte ebenfalls einen Teil seines Primärrohstoffbedarfs durch Recyclingmaterial ersetzen, auch aus der Müllverbrennung.
Die Technik existiert, was fehlt, ist der politische Wille. Ob Mike mit seiner Planierraupe über Sand und Kies fährt oder über synthetische Granulate wie die von Heros, ist einerlei: Die Straßen in den Niederlanden sind nicht dafür bekannt, schlechter zu sein als die in Deutschland.
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