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26. Januar 2024

„Die Schweizer sind Sammler“

Ein Interview mit Pierre Vasseur, Verwaltungsratspräsident der REMONDIS Schweiz AG

Pierre Vasseur ist Verwaltungsratspräsident der REMONDIS Schweiz AG. Wir sprachen mit ihm über den aktuellen Stand der Kreislaufwirtschaft in der Schweiz, die Sammeldisziplin der Eidgenossen und Perspektiven für die Zukunft.

RE:VIEWS: Herr Vasseur, Sie verantworten als Verwaltungsratspräsident die Aktivitäten von REMONDIS in der Schweiz. Nun steht die Schweiz aufgrund ihrer Lage als außenpolitisch neutraler Binnenstaat ein wenig im Schatten ihrer EU-Nachbarländer. Können Sie uns kurz den aktuellen Stand der Kreislaufwirtschaft in der Schweiz beschreiben?

Pierre Vasseur: Die Schweiz hat eine sehr gut etablierte Kreislaufwirtschaft, die sich eng an die EU-Abfallgesetzgebung anlehnt und in vielen Bereichen mit ihr übereinstimmt. Dabei orientiert sie sich ebenfalls an der Abfallhierarchie und setzt Vermeidung an oberste Stelle. Die Regierung, Industrie und Bevölkerung arbeiten eng zusammen, um die Nutzung von Ressourcen zu optimieren und Abfälle zu minimieren. Der Schweizer Markt hat sich liberalisiert und ist gleichzeitig so kompatibel mit der EU, dass hier eine gute Zusammenarbeit besteht.

RE:VIEWS: Laut Berechnungen produziert jede in der Schweiz lebende Person durchschnittlich rund 700 Kilogramm Siedlungsabfall im Jahr und damit deutlich mehr als die europäischen Nachbarn. Zum Vergleich: Der EU-Durchschnitt liegt bei rund 530 Kilogramm pro Kopf. Was entgegnen Sie diesen Zahlen?

Pierre Vasseur: Hoher Rohstoffbedarf und Konsum hängen vor allem auch mit der Wirtschaftsstärke eines Landes und der Kaufkraft der Bevölkerung zusammen. Beides ist in der Schweiz recht hoch. Aber wie schon eingangs erwähnt: Die Schweiz verfügt über eine vergleichsweise weit entwickelte Abfallwirtschaft. Rund 50 Prozent aller Siedlungsabfälle werden in über zehn Fraktionen separat gesammelt. Dies führt zu sehr hohen Sammel- und Recyclingraten.

RE:VIEWS: Die Sammel- und Sortierdisziplin der Schweizer ist also sehr gut.

Pierre Vasseur: In der Tat, die Schweizer sind Sammler, das zeigt sich gerade auch beim Abfall. Konkret sehen wir das beim Glas: Fein säuberlich nach Farben getrennt kommen wir hier auf eine Erfassungsquote von rund 98 Prozent. Auch PET-Flaschen oder Dosen werden sortenrein gesammelt und zum Wertstoffhof gebracht. Als Anreiz für das getrennte Sammeln werden Kehrichtsackgebühren oder vorgezogene Gebühren im Handel erhoben. Schweizweite Pfandsysteme gibt es hingegen keine.

Um die Abgabe von Abfällen flexibler zu gestalten, haben wir auf unserem Wertstoffhof in Wallisellen schon vor einiger Zeit einen Self-Service eingeführt, der 24/7 genutzt werden kann und sehr gut angenommen wird. Immerhin konnten wir zuletzt rund 35.000 Besucherinnen und Besucher in einem Monat begrüßen. Außerhalb der regulären Öffnungszeiten wird der Zugang durch ein Schrankensystem organisiert, ein Zugang kostet jeweils fünf Franken. Dabei stellen wir immer wieder die gute Sortierdisziplin fest, denn die Leute bringen ihre Abfälle gut vorsortiert zum Wertstoffhof. Und um potenzielle Fehlwürfe oder Missbrauch zu vermeiden, wird das Autokennzeichen bei der Zufahrt aufgenommen. Das erhöht die Hemmschwelle!

RE:VIEWS: Sie erwähnten, dass es keine schweizweiten Pfandsysteme gibt. Wie wird die Kreislaufwirtschaft denn generell im Land umgesetzt?

Pierre Vasseur: Dazu muss man einen Blick auf das politische System werfen. Die Schweizerische Eidgenossenschaft ist ein föderalistischer Bundesstaat, der aus 26 teilsouveränen Kantonen besteht. Im Bereich der Kreislaufwirtschaft hat der Bundesstaat eine umfassende Gesetzgebung, deren Umsetzung den Kantonen und Gemeinden obliegt. Das bedeutet: Was als nationales Gesetz vorgegeben wird, kann unterschiedlich interpretiert und umgesetzt werden. Die Hoheit liegt also auf Ebene der Kantone und Gemeinden.

RE:VIEWS: Haben Sie ein konkretes Beispiel?

Pierre Vasseur: Ja, die Abfallvignetten. Für die Sammlung von Hausabfällen sind in der Schweiz jeweils die Gemeinden zuständig. Die Vignetten sind Marken der jeweiligen Gemeindeverbände, welche auf die Säcke geklebt werden. Ein Teil der Kosten für die Sammlung und die Verwertung der Hausabfälle wird über ebendiese Vignetten finanziert, der andere Teil über Steuern. Die Gemeinden bestimmen jeweils das Verhältnis.

Doch wie schon zu vermuten, gibt es auch Ausnahmen. So ist Genf der einzige Kanton in der Schweiz, der bis heute keine Abfallvignetten eingeführt hat. Stattdessen werden die Verwaltungskosten für die Abfallsammlung und -verwertung vollständig durch Steuern finanziert. Hiermit nimmt Genf eine Sonderstellung ein.

RE:VIEWS: In Deutschland übernehmen über 10.000 kommunale und private Unternehmen der Kreislaufwirtschaft die Verantwortung für die umweltgerechte Beseitigung und Verwertung von Restabfällen sowie die Gewinnung von Wertstoffen aus privaten Haushalten, Industrien und Gewerbe. Wie ist der Markt in der Schweiz aufgestellt?

Pierre Vasseur: Insgesamt ist der Markt der Kreislaufwirtschaft in der Schweiz sehr kleinteilig mit vielen kleinen Unternehmen und diversen Dienstleistungen. Schließlich existieren rund 3.600 Gemeinden, die separat Entsorgungsdienstleistungen an Privatunternehmen ausschreiben oder die Dienstleistungen selbst erbringen. Das ist gemessen an einer Einwohnerzahl von etwa 8,7 Millionen eine verhältnismäßig große Anzahl an Gemeinden.*

RE:VIEWS: Wer verantwortet die thermische Verwertung im Land?

Pierre Vasseur: In der Schweiz gibt es rund 30 Kehrichtverbrennungsanlagen (KVA), die ausschließlich von der öffentlichen Hand, sprich Gemeinden oder Kantonen, betrieben werden. So hat sich zum Beispiel ein Verbund aus der Abfallregion St. Gallen – Rorschach – Appenzell zusammengeschlossen, um das Kehrichtheizkraftwerk St. Gallen zu betreiben. Die gemischten Siedlungsabfälle werden in der Schweiz vollumfänglich thermisch verwertet. Die freigesetzte Energie wird dann entweder direkt als Wärme und/oder zur Stromproduktion genutzt.

* Zum Vergleich: Die Anzahl aller Gemeinden in Deutschland betrug Ende 2021 insgesamt 10.789

„Die Schweiz hat eine sehr gut etablierte Kreislaufwirtschaft, die sich eng an die EU-Abfallgesetzgebung anlehnt und in vielen Bereichen mit ihr übereinstimmt.“

Pierre Vasseur, Verwaltungsratspräsident REMONDIS Schweiz

RE:VIEWS: Bei der thermischen Verwertung fallen Schlacken beziehungsweise Flugaschen an, die sinnvoll verwertet werden können. Wie ist hier die Gesetzgebung in der Schweiz?

Pierre Vasseur: Mit Einführung des Deponieverbots Ende der 1990er Jahre hat die Bedeutung der thermischen Verwertung in der Schweiz noch einmal zugenommen. Dabei fallen eben Reststoffe an, die sich sinnvoll verwerten lassen. Stand jetzt darf in der Schweiz die Schlacke aus der Kehrichtverbrennung jedoch nicht als Baustoff verwendet werden.

Bei der Flugasche sieht es etwas anders mit der Verwertung aus. Die Flugasche aus der Abfallverbrennung enthält große Mengen an Schwermetallen, die als Wertstoffe wieder in den Kreislauf gelangen sollen. Während in Deutschland Flugasche unter Tage in Salzminen als Füllmaterial eingelagert wird, fordert der Gesetzgeber in der Schweiz seit Anfang 2021 die Nachbehandlung von Filteraschen und die Rückgewinnung von Metallen, insbesondere Zink.

Vor allem für kleinere Kehrichtverbrennungsanlagen ist die Errichtung und Nutzung einer eigenständigen Aufbereitungsanlage jedoch kaum wirtschaftlich. Daher hat die Chiresa AG frühzeitig reagiert und eine entsprechende Anlage projektiert und in Full-Reuenthal errichtet. In der Anlage können jährlich rund 12.000 Tonnen Flugasche aus den Verbrennungsanlagen der Region gewaschen und aufbereitet werden. Nach der Verwertung wird die gewaschene Asche dann deponiert.

RE:VIEWS: Können Sie uns kurz beschreiben, in welchem Umfang REMONDIS generell in der Schweiz tätig ist?

Pierre Vasseur: Die REMONDIS Schweiz AG ist seit mehr als 25 Jahren tätig. In dieser Zeit konnten wir unsere Aktivitäten stetig erweitern und diversifizieren. Dabei hilft uns auch unsere Zugehörigkeit zur REMONDIS-Gruppe, die uns Zugang zu internationalem und branchenübergreifendem Expertenwissen ermöglicht.

Mittlerweile haben wir einen Jahresumsatz von 100 Millionen Schweizer Franken überschritten und gelten schweizweit als die Nummer zwei unter den Recyclingunternehmen. Verteilt auf sieben Niederlassungen inklusive Beteiligungen bieten wir mit über 300 Mitarbeitenden einen umfassenden Service für Gewerbe, Industrie und Kommunen. Unsere Hauptzentrale befindet sich seit 2007 in Schaffhausen. Von hier aus steuern wir all unsere Dienstleistungen für mehr als 8.000 Kundinnen und Kunden in der gesamten Schweiz.

„Insgesamt sehe ich die Schweiz sehr weit vorne, und die Kreislaufwirtschaft ist jetzt schon robust und gut organisiert.“

Pierre Vasseur, Verwaltungsratspräsident REMONDIS Schweiz

RE:VIEWS: Und welche Dienstleistungen sind das konkret?

Pierre Vasseur: Unser Portfolio ist historisch gewachsen. Der Ursprung liegt im Jahr 1976, dem Gründungsjahr der B. Spadin AG, an der sich RETHMANN Recycling im Jahr 1994 schließlich beteiligte. Unser Ursprungsunternehmen war in der Verwertung von silberhaltigen Photobändern, Röntgenfilmen und anderen Abfällen aus der bildverarbeitenden Industrie tätig. Auch wenn sich durch die Digitalisierung das Geschäft mit analogen Bildern verändert hat, verschaffte uns die Beteiligung Zugang zu einem anderen wichtigen Markt: dem medizinischen Sektor. Hier werden kontinuierlich sensible Abfälle erzeugt, die ordnungsgemäß und rechtskonform behandelt werden müssen – was keine leichte Sache ist. Nun haben wir uns im Laufe der Jahre enormes Expertenwissen angeeignet und können unseren Kunden unter der Marke REMED ein breites Leistungsspektrum rund um Sammlung, Logistik und Verwertung von medizinischen Abfällen bieten.

Im Laufe der Jahre begegneten uns aber noch viele weitere interessante Tätigkeitsfelder. So haben wir im Jahr 2006 das lokale Entsorgungsgeschäft durch die Übernahme der Urs Sigrist AG in Beringen erweitert. Ebenfalls erwähnenswert ist der Auftrag durch CDTS SA im Jahr 2009, die Sonderabfallverwertungsanlage im Kanton Genf zu betreiben. Im Jahr 2014 wurde die REMONDIS Chemical Waste Services AG in Schaffhausen gegründet. RECHEM betreut namhafte Pharma-, Chemie- und Industrieunternehmen bei der Beseitigung problematischer Abfälle.

Im Jahr 2019 folgte die Übernahme der K. Müller AG in Wallisellen. Hier betreiben wir auch den größten Recyclinghof der Schweiz. Und zuletzt konnten wir 2022 die Chiresa AG übernehmen, womit wir im Bereich Sonderabfälle eine noch breitere Palette an Dienstleistungen bieten, unter anderem in Flugaschenwäsche und Bahnkesselwagenreinigung.

Dieser kurze Ritt durch unsere Historie zeigt, dass das Geschäft in der Schweiz sehr kleinteilig ist und wir uns im Laufe der Jahre so diversifiziert haben, dass wir unseren Kunden aus Kommunen, Gewerbe und Industrie individuelle Komplettlösungen anbieten können.

RE:VIEWS: Gibt es Tätigkeitsbereiche, die aus Ihrer Sicht künftig an Bedeutung gewinnen werden?

Pierre Vasseur: Wir wollen mit innovativen und nachhaltigen Lösungen die Kreislaufwirtschaft in der Schweiz vorantreiben. Mit der Chiresa AG engagieren wir uns deshalb ab sofort im Rückbau von Lithium-Ionen-Batterien. Ziel soll es sein, möglichst vielen Batterien ein „Second Life“ zu schenken, sie also einer Zweitnutzung zuzuführen. Hier sehen wir großes Entwicklungspotenzial!

RE:VIEWS: Wenn Sie einen Wunsch für die Zukunft der Kreislaufwirtschaft in der Schweiz frei hätten, was wäre das?

Pierre Vasseur: Insgesamt sehe ich die Schweiz sehr weit vorne, und die Kreislaufwirtschaft ist jetzt schon robust und gut organisiert. Im Vergleich zu manchen EU-Ländern sind wir sogar in verschiedenen Bereichen schon um einiges voraus. Wir sehen bereits zahlreiche Ansätze für Recycling, zum Beispiel gibt es im Bereich Kunststoff einige Sammelsysteme auf Privatinitiative, die künftig auf nationale Ebene ausgeweitet werden sollen.

Durch unseren ausgeprägten Föderalismus sind jedoch manche Entscheidungen bislang zu langsam und finden auf Ebene der Kantone unterschiedliche Anwendung. Hier würde ich mir an manchen Stellen mehr Koordinierung zwischen den einzelnen Instanzen wünschen, denn letztendlich sollten wir doch an einem Strang ziehen und dabei im Sinne der Nachhaltigkeit gemeinsam unsere Kreislaufwirtschaft weiterentwickeln.

Bildnachweise: Bild 1, 3: Adobe Stock: Brilliant Eye; Bild 2, 4: © REMONDIS

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