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20. Februar 2023

Was wir immer schon zum Überleben brauchten

Abfallwirtschaft als Teil der Kritischen Infrastruktur

Den Abfall einfach ein paar Tage samt überquellenden Abfallbehältern über den nächsten planmäßigen Leerungstermin hinaus in einer eng besiedelten Großstadt stehen lassen. Das ­gehörte in der Vergangenheit zu den wirkungsvollsten Mitteln in einem Arbeitskampf – wir erinnern uns an entsprechende Bilder aus London, Paris, Madrid oder Neapel. Ohne eine funktionierende Abfallwirtschaft geht es nicht, stellt der nicht entsorgte Abfall doch ein erhebliches Hygiene- und Krankheitsrisiko für die Bewohner dar. Die Abfallwirtschaft sieht sich deshalb als Teil der sogenannten Kritischen Infrastruktur. Dazu gehören nach gängigen Definitionen auch zum Beispiel Energie sowie Wasser- und Abwasseraufbereitung.

Definition im Fluss

Dabei ist der Begriff noch recht jung. Er tauchte im Laufe der 1990er Jahre zunächst in den USA auf und kann seine Wurzeln in der Digitalisierung nicht verleugnen. Zu dieser Zeit wurde den Verantwortlichen in Staat und Unternehmen bewusst, dass sie mit der Digitalisierung zwar viele Dinge in Bewegung bringen würden, aber bei einem Ausfall der IT dann deutlich höhere Risiken managen müssten als bisher. Damit wurden die Gefah­renanalyse und die daraus abgeleiteten Schutzkonzepte zunächst einmal rund um die IT-Infrastruktur von Unternehmen, Behörden und Kommunen aufgebaut.

Das Bundesinnenministerium bezieht sich mit Blick auf die in Deutschland seit 2009 gültige „Nationale Strategie zum Schutz Kritischer Infrastrukturen“, formuliert als Umsetzung einer entsprechenden EU-Richtlinie, ausdrücklich auf den „Nationalen Plan zum Schutz der Informationsinfrastrukturen“. Dabei können offensichtlich auch ganz andere Ereignisse von Epi­demien über Naturkatastrophen bis zu Kriegen die Funktionsfähigkeit der Kritischen Infrastruktur in Frage stellen.

Gehörten die Wasserversorgung und die Abwasseraufbereitung im Verständnis von Bund und Ländern schon immer zur Kriti­schen Infrastruktur, ist die haushaltsnahe Abfallwirtschaft erst 2021 mit dem IT-Sicherheitsgesetz 2.0 in die Liste der Branchen aufgenommen worden, die Kritische Infrastruktur betreiben. Die Festlegung ist so neu, dass Branchenvertreter noch Ende 2021 den Corona-Expertenrat der Bundesregierung daran erinnern mussten, der die Branche in seinen Empfehlungen ausgespart hatte.

In den letzten zwei Jahren haben die von der Corona-Pandemie ausgelösten Verwerfungen etwa im Gesundheitswesen oder in den globalen Lieferketten uns klargemacht, wie sehr aller Bürger Leben nicht an einem, sondern an etlichen seidenen Fäden hängen, die nicht so reißfest sind, wie man das in guten Zeiten aus Bequemlichkeit vorausgesetzt hatte.

Die haushaltsnahe Abfallwirtschaft ist erst 2021 mit dem IT-Sicherheitsgesetz 2.0 in die Liste der Branchen aufgenommen worden, die Kritische Infrastruktur betreiben.

Der Blick in den Rückspiegel

Dabei existiert Kritische Infrastruktur in der Realität schon viel länger, als es den Begriff gibt. Der technische Fortschritt, die im historischen Prozess sich immer weiter entwickelnde Arbeitsteilung, die Verstädterung und das Bevölkerungswachstum haben uns abhängig gemacht von unseren Mitmenschen. Alleine kann quasi keiner mehr von uns überleben, vor allem nicht in der erreichten Lebensqualität. Doch wie verlässlich ist unser Nachbar? Auf diesen Zweifel reagieren Menschen schon seit vielen Jahren mit so selbstverständlichen Techniken wie der Vorratshaltung. Und auch äußere Faktoren können uns in Gefahr bringen. Das zeigt der Blick in die Vergangenheit, der zugleich deutlich macht, warum Abfallbeseitigung und Abwasseraufbereitung zentrale Teile der Kritischen Infrastruktur sind.

Verwerten vor Beseitigen

Genau ist nicht zu bestimmen, ab wann Menschen Abfälle systematisch erfassten und in der Regel deponierten. Das hat einen einfachen Grund: In Mangelgesellschaften ist die Reparatur und Wiederverwendung quasi aller Stoffe wie Holz, Knochen, Glas, Metall und Tierhäute der Standard. Kesselflicker und Flickschuster bringen wieder in Ordnung, was durch Verschleiß kaputt gegangen ist. Lumpensammler, wie andere Handwerker ein in Zünften organisierter Beruf, zahlen dafür, den Hausabfall systematisch auf Wertstoffe durchsuchen zu dürfen. Aus den Tierknochen wird Leim gekocht. Urin wird gesammelt, um ihn bei der Lederverarbeitung einzusetzen. Selbst Fäkalien werden im Mittelalter erfasst und entweder als Dünger oder Brennstoff weiterverkauft. „Scheiße zu Gold machen“ war im Mittelalter also gelebte Realität.

Nur wenige Dinge werden schon damals wirklich deponiert, darunter der Kehricht, der Kleinstschmutz aus dem Haushalt. Und der wird meist zusammen mit allem sonst nicht Verwertbaren vor der Stadt in Gruben gesammelt, die heute zu den ergiebigsten Fundorten für Archäologen zählen. Damit die Stoffe nicht einfach vor der Haustür landen, Wege versperren oder Unfälle verursachen, beginnen einzelne Städte schon im Mittelalter damit, das Material aus der Stadt zu befördern. Hygiene spielt dabei noch eine untergeordnete Rolle.

Geänderte Einstellung zum Abfall

Zur Herausforderung wird der Abfall erst in der Neuzeit. Denn er wird mehr. Und zusammen mit dem Bevölkerungswachstum werden wilde Müllablagerungen in der Stadt zu einem echten Problem. Dabei treiben verschiedene Entwicklungen den Prozess voran. Technischer Fortschritt macht Teile der bisherigen Verwertungsprozesse unwirtschaftlich. So übernimmt Kohle bei der Energieerzeugung eine zentrale Rolle. Holz und Papier als Brennstoff zu sammeln, macht nach Jahrhunderten auf einmal keinen Sinn mehr. Und künstlich erstellte, preiswertere Rohstoffe wie Düngemittel lösen vergleichbare Entwicklungen aus.

Auch unser kultureller und sozialer Umgang mit unseren „Überresten“ ändert sich. War man im Mittelalter noch ziemlich zwanglos mit vielen Lebensbereichen umgegangen, entstehen insbesondere im Nachklang zur Reformation ein viel stärkeres Schamgefühl und das Bedürfnis nach Privatheit und Abgeschlossenheit der Familie nach außen. Wir wollen nun nicht mehr mit unserem Abfall konfrontiert werden: „Möglichst weit weg damit“ wird zum Prinzip.

Im absolutistischen Staat sowie im Zuge der Aufklärung wird die Reinlichkeit ein Thema, das man den ungebildeten Ständen meint beibringen zu müssen. Die ehedem mit der Abfallverbringung beschäftigten Berufe werden geradezu stigmatisiert und ausgegrenzt, so als seien sie für den Schmutz verantwortlich. Sauberkeit entwickelt sich zu einem Grund, die eigene Bevölkerung zu disziplinieren und zu überwachen. Das trägt sich weiter bis zur Stadtentwicklung im 19. Jahrhundert. Je weniger man gesellschaftlich zählt, umso näher liegen die in den schnell wachsenden Städten errichteten Wohnungen für Arbeiter und Zuwanderer vom Land an den kommunalen Abfallgruben und Rieselfeldern.

Hygiene als Prinzip

Schließlich setzt ein wissenschaftlicher Erkenntnisprozess ein, dass Abfall nicht ungefährlich ist, sondern Luft, Wasser und Böden verseuchen kann, aber auch ein erhebliches Gesundheitsrisiko für die Stadtbewohner darstellt. Zunächst schlägt sich das in der sogenannten Miasmenlehre des 17. und 18. Jahrhunderts nieder, die zwar die Zusammenhänge schon ahnt, aber noch keine Beweise hat und sich deshalb in erster Linie an Äußerlichkeiten orientiert. Man geht davon aus, dass für den Menschen ungesund ist, was schlecht riecht oder schmutzig aussieht. Das nicht Sichtbare, also Bakterien und Viren sowie ihre Wirkungsweise, rücken erst im nächsten Schritt mit der Bakteriologie in den Mittelpunkt. Die Idee der Hygiene gewinnt seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts schnell an Bedeutung. Nun ist klar: Abfall ist gefährlich und der Mensch muss im Umgang damit vorsichtig sein.

Zunächst einmal führt das aber zu einer ­krisenhaften Entwicklung. Die bisherige Verwertungsinfrastruktur und ihre Träger, die entsprechenden Berufe, verschwinden noch im 19. Jahrhundert. Aber Neues entsteht nicht so schnell, wie die Abfallvolumina nun ab dem 20. Jahrhundert in die Höhe schießen. Den Abfall raus aus der Stadt zu schaffen, das wird bis Ende des 19. Jahrhunderts zwar zum Standard, jetzt aber als kommunale Aufgabe. Aber was dann damit tun?

Schon im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts bricht ein Streit darüber aus. Anhänger der Wiederverwertung sehen in der Deponierung und Verbrennung einen „ökonomischen Frevel“. Einzelne Versuche – etwa in München seit der Jahrhundertwende mit der nachträglichen Sortierung des Hausabfalls und der Weiterverwertung der gewonnenen Stoffe oder in Kiel mit der industriellen Aufbereitung menschlichen Kots zu Dünger – scheitern schließlich an der mangelnden Wirtschaftlichkeit und Hygienebedenken.

Die andere Streitpartei will den Abfall aus ebendiesen Hygienegründen durch Verbrennung ganz und gar loswerden. Doch die Verbrennung funktioniert zumindest in Deutschland zu der Zeit noch nicht wirklich, da zu wenig Brennbares im Abfall ist, gerade in Kriegszeiten. Am Ende setzt sich die eigentlich von keiner Seite gewollte Deponierung durch, zunächst völlig unsystematisch – und mit den entsprechenden Folgen für die Umwelt an den Standorten.

Mit dem stark wachsenden Abfallvolumen nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Wirtschaftswunder zeigen sich in Deutschland erste Ansätze einer Kreislaufwirtschaft. Erst als der Notstand nicht mehr zu verstecken ist, die Deponien sich in den 1960er Jahren schneller füllen, als Ersatz geschaffen werden kann, beginnt man im nächsten Jahrzehnt mit einer systematischen Erfassung und Verwertung, der Geburtsstunde der heutigen Recyclingwirtschaft.

Weder die Abfall- noch die Abwasseraufbereitung sind in der historischen Rückschau Selbstverständlichkeit. Sie sind die Reaktion auf essenzielle Notwendigkeiten menschlichen Lebens auf einem arbeitsteilig organisierten, hochentwickelten und dicht bevölkerten Planeten. Sie erfüllen Aufgaben, ohne die insbesondere städtisches Leben unmöglich wäre. Sie brauchen ein sinnvolles und ungestörtes Ineinandergreifen vieler Prozesse und Akteure, um zu funktionieren.

Abwasser­aufbereitung

Ein separates, aber doch eng mit der Abfallwirtschaft verbundenes Thema ist das Feld der Abwasseraufbereitung. Hier wissen wir aus archäologischen Funden, dass schon seit der Bronzezeit vor mehr als 4.500 Jahren in sumerischen Städten Kanalisationen benutzt wurden, um mit Wasser Fäkalien aus der Stadt heraus in geeignete Fließgewässer zu leiten. Vergleichbare Systeme sind während der ganzen Antike bis in die römische Zeit hinein neu konstruiert und genutzt worden.

Dann ging das Wissen aber verloren. Genauer gesagt, sorgten veränderte politische Verhältnisse, mangelnde ökonomische Möglichkeiten und neue religiöse Vorstellungen dafür, dass man die Städte teils verließ, die Systeme nicht weiterbetrieb und dann innerhalb weniger Generationen auch das Wissen um die Möglichkeit verschüttet wurde.

Stattdessen landen die Fäkalien im Mittelalter und der frühen Neuzeit einfach vor der Haustür, in der Sickergrube oder dem nächsten Bächlein. Die dadurch verursachte Verschmutzung des eigenen Lebensumfelds stört die Menschen zwar insbesondere seit Beginn der Neuzeit zunehmend. Doch zunächst versuchte man, des Gestanks und des Schmutzes mit obrigkeitsstaatlicher Regulierung Herr zu werden. Erst die wiederholten Cholera-Epidemien im 19. Jahrhundert und die Identifizierung der fehlen­den Verbringung der menschlichen Hinterlassenschaften als zentrale Ursache führten seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in einigen Großstädten, flächendeckend erst in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zur Errichtung von städtischen Kanalisationen.

Allerdings erwies sich die Einleitung der Abwässer in naheliegende Gewässer ebenfalls als problematisch: Schließlich konnte man aus kontaminierten Gewässern kein Trinkwasser mehr gewinnen und der Nutzen zur Naherholung oder Fischerei war auch verloren. Zunächst setzten innovative Städte auf eine ­natürliche Klärmethode, die Rieselfelder. Hier war aber der Flächenbedarf so groß, dass das Verfahren schnell an Grenzen stieß. Im nächsten Schritt hat man dann im Laufe des 20. Jahrhunderts schrittweise die Techniken zur mechanischen, chemischen und biologischen Aufbereitung von Abwasser entwickelt, um das Abwasser einerseits gefahrlos zu entsorgen und andererseits die zurückgewonnenen Stoffe, in erste Linie das Wasser, wiederverwenden zu können.

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